Leitartikel aus unserem Gemeindebrief Mai/Juni 2024 von Michael Oberländer


Alles ist mir erlaubt, aber nicht alles dient zum Guten.
Alles ist mir erlaubt, aber nichts soll Macht haben über mich.
1.Kor 6,12 (Monatsspruch Juni 2024)


Alles ist mir erlaubt
Dieser Satz könnte geradezu aus dem Jahr 2024, aus unserer Gegenwart stammen. Es wird als ein hohes Gut in unserer westlichen Gesellschaft angesehen, dass jeder Mensch das Recht hat so zu leben, so zu sein, so zu glauben wie es ihm entspricht. Das hat mit der Würde jedes Einzelnen zu tun, so wie es im Grundgesetz lange schon verankert ist. Gott sei Dank ist diese Würde anerkannt und geschützt!

Alles ist mir erlaubt, aber
Das ist zunächst ein sehr positiver Satz. Er verspricht Freiheit und weiß zugleich darum, dass seine Aussage auch nach hinten losgehen kann. Darum schiebt der Apostel Paulus die beiden Nebensätze ein „ … aber nicht alles dient zum Guten ... aber nichts soll Macht haben über mich.“

Diese Nebensätze erinnern uns daran, dass das Leben gelingt, wenn die Frage nach dem „Guten“ gestellt wird. Wenn ich einzelner Mensch nicht nur meinen Vorteil, sondern auch die Freiheit der anderen im Blick habe – dann gebrauche ich meine persönliche Freiheit recht; dann wird eigenes und fremdes Leben gefördert!

Nun ist es uns nicht in die Wiege gelegt, zwischen persönlicher Freiheit und der Freiheit des Gegenübers ausgewogen zu handeln. Das will vielmehr gelernt sein, von klein auf!

Lebenslang geht es um die herausfordernde Frage: Wie finde ich das richtige Gleichgewicht zwischen meiner eigenen Freiheit und jener meiner Mitmenschen? Wie kann es gelingen, dass meine Entscheidung dem Guten dient und ich nicht unter die Fuchtel falscher „Mächte“ gerate?

Als ich mit meiner Familie in Heidelberg gelebt habe, hatten wir engen Kontakt zum dortigen Montessori-Zentrum, dessen Arbeit uns sehr beeindruckt hat. Ein Leitsatz der dort praktizierten Pädagogik lautet:

„Alles ist erlaubt.“ Die Kinder dürfen sich ausprobieren. Es stehen ihnen Räume zur Verfügung, in denen sie aus verschiedensten Materialien eigenständig auswählen können – entsprechend ihrem Entwicklungsstand und ihren Wünschen. Alles ist ihnen erlaubt.

Ist das also ein grenzenloses Paradies, in dem Egoisten herangezogen werden? (Genau das wird der Montessori-Pädagogik von unwissenden Kritikern oftmals vorgeworfen.) Nein! Ein Raum hat Grenzen!

Und es sind genau diese Grenzen, die freie Entscheidungen überhaupt erst ermöglichen. Es sind hilfreiche Grenzen, die das Miteinander klar regeln: Tu was du willst, aber störe die anderen dabei nicht. Nimm dir alles, was du brauchst, aber räume es hinterher wieder zurück. Mach das, was du willst, aber lass auch die anderen ihre Sachen in ihrem Rhythmus tun.

Es geht also um eine Freiheit mit Grenzen und Absprachen! Eine Freiheit, welche die Freiheit des anderen respektiert. Matthias Claudius, dessen Lied vom aufgegangenen Mond[1] wir so gerne singen, formuliert es so: „Die Freiheit besteht darin, dass man alles das tun kann, was einem anderen nicht schadet.“

Diese Freiheit hat Jesus mustergültig vorgelebt. So vieles hat er getan, was Menschen zunächst vor den Kopf gestoßen und ihre Grenzen überschritten hat. Durch die Gegend ist er gezogen mit seiner Jüngerschaft, anstatt die Schreinerei seines Ziehvaters Josef zu übernehmen. Er hat andere angestiftet, ihre Familien zu verlassen, um mit ihm zu gehen. Am Sabbat hat er gearbeitet, die alten Schriften hat er neu interpretiert. Viele Freiheiten hat er sich genommen! Aber sie haben zum Guten gedient; er hat sich in aller Freiheit in den Dienst Gottes gestellt. Er lädt uns ein, dass auch wir uns in diesen Dienst stellen. Mit allem, was wir sind und haben, mit unserem Tun und Können, unseren Begabungen und unserer Freude an der eigenen Verwirklichung. Und auch mit unserem gelegentlichen Scheitern. Immer verbunden mit der Frage: Dient das, was ich mir herausnehme, dem Guten – tut es mir und anderen wirklich gut oder beherrscht mich etwas und macht mich unfrei?

Matthias Claudius beschließt sein bekanntes Abendlied [1] mit dem Satz:
Verschon’ uns, Gott, mit Strafen, und lass uns ruhig schlafen,
und unsern kranken Nachbarn auch
.

So soll es sein, Amen.

 

[1] Liederbuch "Feiern & Loben" Nr. 481